Roter Blitz von Astrid Frank
Leseprobe
„Weit abgeschlagen Phar Lap. Es sieht nicht so aus, als ob der große Fuchs hier und heute sein Rennen machen könnte, meine Damen und Herren. Das australische Wunderpferd bildet beim Agua Caliente das Schlusslicht.“
„Verdammt!“, zischte Mr Davis und schleuderte seinen Hut auf den Boden. Er hatte es sich bereits so schön ausgemalt: Jedes Rennen in Amerika wollte er mit Phar Lap gewinnen und dann, wenn hier nichts mehr zu holen war, kam England dran. Und anschließend die ganze Welt. Aber jetzt war er von dieser Zukunftsvision so weit entfernt wie vom Mond, auf den ebenfalls niemals ein Mensch seinen Fuß setzen würde.
„Reveille Boy sieht sehr gut aus, Ladies and Gentlemen. Er führt das Feld an. Aber auch Bahamas macht ein gutes Rennen. Ebenso Dr Freeland und Joe Flores. Die Pferde gehen jetzt auf die zweite Runde zu.“
Der Besitzer von Reveille Boy, der schräg hinter Mr Davis saß, lächelte zufrieden.
„Phar Lap läuft sehr langsam. Er scheint in keiner guten Verfassung zu sein. Reveille Boy nach wie vor auf Platz eins. Spanish Play auf Platz drei. Nur noch eine dreiviertel Meile, meine Damen und Herren, dann ist das Rennen entschieden. Der Australier jedoch konnte sich heute nicht profilieren. Er wurde den Erwartungen, die man hier in ihn gesetzt hatte, nicht im Mindesten gerecht. Doch was ist das? Phar Lap schließt auf! Er greift außen an! Geht an Cabezo vorbei ... Nur noch eine halbe Meile bis zum Ziel – das ist nicht mehr zu schaffen. Oder doch? Phar Lap überholt Dr Freeland, der eingebrochen zu sein schein. Wie ein Expresszug arbeitet sich der mächtige Fuchs vor, macht Platz um Platz gut. Jetzt überholt er Bahamas. Oh ... Spanish Play fällt zurück ... Phar Lap jetzt auch noch vorbei an Seth’s Hope ... Wer hätte das gedacht, meine Damen und Herren ...“
Die Zuschauer hatten sich von ihren Plätzen erhoben und verfolgten ungläubig, wie Phar Lap sich vom letzten Platz vor arbeitete. Keiner von ihnen hatte jemals ein Pferd so rennen gesehen. Der Rote Blitz schien regelrecht zu fliegen.
„Da kommt Phar Lap. Inzwischen an dritter Position hinter Reveille Boy und Scimitar. Dr Freeland und Spanish Play weit abgeschlagen. Reveille Boy und Phar Lap. Wird sich zwischen diesen beiden das Rennen entscheiden?“
Während Mr Davis seinen Hut wieder aufgehoben hatte und ihn abklopfte, wurde das Gesicht von Reveille Boys Eigentümer zusehends frostiger.
Billy schnalzte mit der Zunge und ließ Phar Lap noch mehr Zügelfreiheit. Der Rote Blitz schnaufte, seine Nüstern öffneten und schlossen sich wie kleine Blasebalge, seine Muskeln verlangten nach Sauerstoff. Das Pferd spürte den Schmerz in seinem Huf, aber da war noch ein anderes Pferd vor ihm. Und er wusste, was Billy von ihm verlangte. Er wusste, was Tommy von ihm erwartete. Und er wollte alles tun, um seinen Freund zufrieden zu stellen. Er wollte, dass Tommy seine Arme um seinen Hals legte und ihm liebevolle Worte ins Ohr flüsterte. Er wollte Zuckerstücke und Streicheleinheiten. Und dazu musste er dieses eine Pferd noch überholen. Auch wenn sein Huf schmerzte. Das spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle, wenn es darum ging, zu gewinnen, der Schnellste zu sein. Er musste der Schnellste sein, damit Tommy mit ihm zufrieden war.
Billy schnalzte ein zweites Mal und Phar Lap schoss davon. Jetzt erst lief er tatsächlich so schnell er konnte.
Wholey, der junge Jockey auf Reveille Boys Rücken, hörte das leise Schnalzen. Doch kaum hatte er begriffen, was geschah, war Phar Lap schon an ihm vorbei.
„Da kommt Phar Lap! Phar Lap führt das Feld an! Doch was ist das? Der Favorit scheint Schwierigkeiten zu haben ... Eben noch schien ihn nichts aufhalten zu können und nun verliert er wieder an Geschwindigkeit. Reveille Boy kann Boden gut machen ...“
Tommy horchte auf. Bobby verlor an Geschwindigkeit? Das konnte nur eins bedeuten: Der Huf machte ihm Schwierigkeiten. Angstvoll hielt er seinen Blick auf Phar Lap gerichtet. Doch das Pferd war zu weit weg, um etwas erkennen zu können.
„Reveille Boy und Phar Lap Kopf an Kopf! Wer von den beiden wird sich hier durchsetzen? Reveille Boy lässt nach. Phar Lap zieht an ihm vorbei. Der große Phar Lap führt mit zwei Längen! Und da ist er! Phar Lap ist im Ziel!“
Das Publikum tobte und applaudierte. Es war das gleiche Szenario wie in Melbourne. Auch hier hatte der Fuchs mit seiner außergewöhnlichen Aufholjagd die Herzen der Zuschauer für sich gewonnen.
Doch während Mr Davis die Gratulationen entgegennahm und der Besitzer von Reveille Boy seinen Ärger hinunterzuschlucken versuchte, hatte Tommy nur ein Ziel: Er wollte zu Bobby. Er wollte wissen, was geschehen war. Warum hatte Bobby an Geschwindigkeit verloren? Was war mit seinem Huf? War er ernsthaft verletzt? Der junge Mann wusste besser als jeder andere, dass es schlimm um Bobby stehen musste, wenn er bei einem Rennen beinahe aufgab!
vdippel - 8. Apr, 07:26