franco-allemand

Mittwoch, 4. April 2007

Das Verb lesen verträgt keinen Imperativ

„Le verbe lire ne supporte pas l'impératif”
Daniel Pennac

pennac-KopieIm Februar 2007 waren einige Franzosen aus Amiens an unserer Schule. Wir haben in Deutsch die Chance genutzt und einen französisch-deutschen Unterricht gemacht. In der ersten Stunde ging es um Daniel Pennac und seine in dem Buch "Comme un roman" (auf Deutsch unter dem Titel "Wie ein Roman" erschienen) veröffentlichten Rechte des Lesers. Wir haben uns gefragt, was die einzelnen Rechte für uns bedeuten und welche Lektüreerlebnisse jeder mit diesen Geboten verbindet.

Vor allem die Frage, wie man Schüler wirklich zum Lesen animieren kann, wurde heftig diskutiert. Denn, machen wir uns nichts vor: Jede Schullektüre wird von ein paar Leuten gar nicht gelesen oder einfach nur überflogen, beziehungsweise auf Aspekte hin abgeklopft, von denen man annimmt, dass sie der Lehrer hören möchte. Wir nahmen an dieser Stelle die Diskussion wieder auf, die ein Schüler mit einer schriftlich verfassten Selbstbeobachtung nach der letzten Klassenlektüre in Gang gesetzt hatte [hier] und lasen anschließend dazu eine passende Stelle von Pennac, der selbst Lehrer ist und genau diese Gratwanderung zwischen seinem eigenen Anspruch und dem Schulalltag immer wieder aufs Neue ausloten muss. Er gibt auf Seite 84-86 (frz. Ausgabe S. 83-85) ein Gespräch mit seiner Frau wider, die ihn beständig an seine eigenen Ideale erinnert. Der Text beginnt damit, dass Pennac über der Korrektur von Literaturaufsätzen sitzt:

»[…] Wer wird je die Einsamkeit des Langstreckenkorrektors beschreiben? Ein paar Hefte weiter beginnen die Wörter vor meinen Augen zu tanzen. Die Argumente neigen dazu, sich zu wiederholen. […] Wie Gebetsmühlen leiern die Schüler herunter: Man muss lesen, man muss lesen! Die endlose Litanei des erzieherischen Wortes: Man muss lesen…dabei beweist jeder ihrer Sätze, dass sie nie lesen! […]

„Warum regst du dich denn so auf, Liebling? Eure Schüler schreiben das, was ihr von ihnen erwartet!“ „Nämlich?“ „Dass man lesen muss! Das Dogma! Du hast doch wohl nicht einen Stapel Klassenarbeiten mit Lobgesängen auf die Bücherverbrennung erwaretet?“ „Ich erwarte nur, dass sie ihren Walkman abstellen und wirklich anfangen zu lesen!“ „Stimmt gar nicht. Du erwartest, dass sie dir gute Inhaltsangaben über die Romane abliefern, die du ihnen vorschreibst, dass sie die Gedichte deiner Wahl richtig „interpretieren“, dass sie im Abitur Texte aus deiner Liste genau analysieren, dass sie „scharfsinnig“ kommentieren und intelligent „zusammenfassen“, was ihnen der Prüfer am Morgen vor die Nase hält.“ […] Sie lächelt. Sie legt ihre Hand auf seine. „Du musst dich damit abfinden, Liebling: die große Verehrung des Buches beruht auf der mündlichen Erzähltradition. Und du bist ihr Hohepriester.“ […]«

Wir sprachen über diese Textstelle und die Schüler waren sich weitgehend einig, dass der Lehrer zum Lesen animieren muss, die Schüler quasi zur Literatur verführen, indem er auf die Geschichten neugierig macht.
Allerdings finde ich, dass Pennac mit seinem Urteil falsch liegt, wenn er schreibt, dass man merke, dass die Schüler nie lesen würden. Ich bin im Gegenteil immer wieder erstaunt, wie viele Bücher meine Schüler verschlingen - die langen Listen von Lieblingsbüchern, die ich nach meinem Aufruf erhielt, sind dafür nur ein Beispiel. Ich frage mich allerdings, wie die Situation und Lesekultur der Jugendlichen in Frankreich ist. Es war schwierig, von unseren Gastschülern einen Kommentar dazu zu erhalten, da sie es offensichtlich befremdlich fanden, im Unterricht ihren Unmut über bestimmte Texte zu äußern oder über private Lektüren zu sprechen.

Handout-Pennac (pdf, 52 KB)

Die zehn unantastbaren Rechte des Lesers von Daniel Pennac

1. Das Recht, nicht zu lesen
2. Das Recht, Seiten zu überspringen
3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen
4. Das Recht, noch einmal zu lesen
5. Das Recht, irgendwas zu lesen
6. Das Recht auf Bovarysmus
7. Das Recht, überall zu lesen
8. Das Recht herumzuschmökern
9. Das Recht, laut zu lesen
10. Das Recht zu schweigen

Les droits imprescriptibles du lecteur

1. Le droit de ne pas lire
2. Le droit de sauter des pages
3. Le droit de ne pas finir un livre
4. Le droit de relire
5. Le droit de lire n'importe quoi
6. Le droit au bovarysme (maladie textuellement transmissible)
7. Le droit de lire n'importe où
8. Le droit de grappiller
9. Le droit de lire à haute voix
10. Le droit de nous taire

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DANIEL PENNAC (bürgerlicher Name: Daniel Pennacchioni) ist Romanschriftsteller, Französischlehrer und leidenschaftlicher Leser. Seine Schreibkarriere hat er als Kinderbuchautor begonnen und wurde dann mit seinen Kriminalromanen berühmt. Pennac gehört zu den französischen Autoren, die in der Welt am meisten übersetzt und gelesen werden.

DANIEL PENNAC, de son vrai nom Daniel Pennacchioni, est romancier, professeur de lettres et un lecteur passioné. Il commence à écrire pour les enfants et finit par proposer Au Bonheur des Ogres à la Série noire. Il est un des auteurs francais qui sont les plus traduit au monde.

Literaturangabe:
Daniel Pennac: Comme un roman. Editions Gallimard 1992.
Daniel Pennac: Wie ein Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994.

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