Biss zur Mittagsstunde von Stephenie Meyer
Leseprobe
Ich war mir zu neunundneunzig Komma neun Prozent sicher, dass es ein Traum war. Erstens stand ich in einem hellen Sonnenstrahl - so ein gleißendes Sonnenlicht gab es in meiner nieseligen neuen Heimat Fords, Washington, einfach nicht -, und zweitens sah ich meine Oma Marie. Sie war schon seit sechs Jahren tot, ein schlagendes Argument dafür, dass es sich um einen Traum handelte. Oma hatte sich kaum verändert; ihr Gesicht sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Die Haut war weich und runzelig, mit tausend Fältchen, die sich sanft um die Wangenknochen schmiegten. Wie eine getrocknete Aprikose, die von einem wolkengleichen Büschel dicker weißer Haare umgeben war. Unsere Münder - ihrer klein und knittrig - verzogen sich im selben Moment zu derselben überraschten Andeutung eines Lächelns. Offenbar hatte auch sie nicht damit gerechnet, mich zu sehen. Ich wollte sie gerade etwas fragen; ich hatte so viele Fragen: Was machte sie hier in meinem Traum? Was hatte sie die letzten sechs Jahre getan? Ging es Opa gut und hatten sie einander dort, wo sie jetzt waren, gefunden? Doch sie öffnete den Mund im selben Moment wie ich, also hielt ich inne, um sie zuerst reden zu lassen. Auch sie stockte und dann lächelten wir beide über die kleine Ungeschicklichkeit. »Bella?« Das war nicht die Stimme meiner Oma, und wir drehten uns beide um. Ich brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, wer da zu uns gestoßen war; diese Stimme würde ich überall erkennen - würde sie erkennen und ihr antworten, ob ich wach war oder schlief [...] selbst wenn ich tot wäre, garantiert. Die Stimme, für die ich durchs Feuer gehen oder, weniger dramatisch, für die ich tagtäglich durch den kalten, niemals endenden Regen waten würde.
Edward. Obwohl ich mich immer wahnsinnig freute, ihn zu sehen - ob ich wach war oder nicht -, und obwohl ich mir fast sicher war zu träumen, geriet ich in Panik, als Edward durch das grelle Sonnenlicht auf uns zukam. In Panik geriet ich deshalb, weil Oma nicht wusste, dass ich einen Vampir liebte - niemand wusste davon -, wie also sollte ich den Umstand erklären, dass die leuchtenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut in tausend Regenbogenscherben zersplitterten, als wäre er ein Kristall oder ein Diamant? Oma, vielleicht ist dir aufgefallen, dass mein Freund glitzert. Das ist bei ihm immer so in der Sonne. Mach dir deswegen keine Gedanke ... Was machte er hier bloß? Der einzige Grund dafür, dass er in Forks, der verregnetsten Stadt der Welt lebte, war der, dass er sich dort im Freien aufhalten konnte, ohne das Geheimnis seiner Familie preiszugeben. Doch jetzt war er hier und kam anmutig auf mich zugeschlendert - mit diesem wunderschönen Lächeln auf seinem Engelsgesicht -, so als wären wir allein.
In diesem Moment wäre ich sehr gern nicht die Einzige gewesen, bei der seine geheimnisvolle Gabe nicht wirkte, während ich normalerweise dankbar dafür war, dass er meine Gedanken nicht hören konnte, als würde ich sie laut aussprechen. Doch jetzt wäre es mir sehr lieb gewesen, wenn er die Warnung hören könnte, die ich ihm in Gedanken zuschrie. Ich schaute panisch zu Oma und sah, dass es zu spät war. Sie drehte sich gerade um und starrte mich an, und sie sah genauso erschrocken aus wie ich. Edward, der immer noch so schön lächelte, dass mir das Herz in der Brust zu zerspringen schien, legte mir den Arm um die Schultern und wandte sich zu meiner Großmutter. Ich wunderte mich darüber, wie Oma guckte. Sie sah gar nicht entsetzt aus, stattdessen schaute sie mich verlegen an, als ob sie darauf wartete, dass ich sie ausschimpfte. Und sie stand ganz merkwürdig da - sie hielt einen Arm gebeugt in die Luft. Als würde sie jemandem, den ich nicht sehen konnte, ihren Arm umlegen, jemand Unsichtbarem [...]
Erst jetzt, als ich das Gesamtbild erfasste, fiel mir der riesige Goldrahmen auf, der die Gestalt meiner Großmutter umgab. Immer noch verständnislos, hob ich die Hand, die nicht um Edwards Mitte lag, um Oma zu berühren. Sie ahmte die Bewegung exakt nach, wie ein Spiegelbild. Doch dort, wo unsere Finger sich hätten berühren müssen, war nur kaltes Glas [...]
Mit einem Mal wurde der Traum zu einem Albtraum. Das war nicht meine Oma. Das war ich. Ich im Spiegel. Ich - uralt, welk und faltig. Edward stand neben mir, er hatte kein Spiegelbild, war quälend schön und für immer siebzehn. Er drückte seine eiskalten, perfekten Lippen an meine runzlige Wange. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, flüsterte er.
Ich war mir zu neunundneunzig Komma neun Prozent sicher, dass es ein Traum war. Erstens stand ich in einem hellen Sonnenstrahl - so ein gleißendes Sonnenlicht gab es in meiner nieseligen neuen Heimat Fords, Washington, einfach nicht -, und zweitens sah ich meine Oma Marie. Sie war schon seit sechs Jahren tot, ein schlagendes Argument dafür, dass es sich um einen Traum handelte. Oma hatte sich kaum verändert; ihr Gesicht sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Die Haut war weich und runzelig, mit tausend Fältchen, die sich sanft um die Wangenknochen schmiegten. Wie eine getrocknete Aprikose, die von einem wolkengleichen Büschel dicker weißer Haare umgeben war. Unsere Münder - ihrer klein und knittrig - verzogen sich im selben Moment zu derselben überraschten Andeutung eines Lächelns. Offenbar hatte auch sie nicht damit gerechnet, mich zu sehen. Ich wollte sie gerade etwas fragen; ich hatte so viele Fragen: Was machte sie hier in meinem Traum? Was hatte sie die letzten sechs Jahre getan? Ging es Opa gut und hatten sie einander dort, wo sie jetzt waren, gefunden? Doch sie öffnete den Mund im selben Moment wie ich, also hielt ich inne, um sie zuerst reden zu lassen. Auch sie stockte und dann lächelten wir beide über die kleine Ungeschicklichkeit. »Bella?« Das war nicht die Stimme meiner Oma, und wir drehten uns beide um. Ich brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, wer da zu uns gestoßen war; diese Stimme würde ich überall erkennen - würde sie erkennen und ihr antworten, ob ich wach war oder schlief [...] selbst wenn ich tot wäre, garantiert. Die Stimme, für die ich durchs Feuer gehen oder, weniger dramatisch, für die ich tagtäglich durch den kalten, niemals endenden Regen waten würde.
Edward. Obwohl ich mich immer wahnsinnig freute, ihn zu sehen - ob ich wach war oder nicht -, und obwohl ich mir fast sicher war zu träumen, geriet ich in Panik, als Edward durch das grelle Sonnenlicht auf uns zukam. In Panik geriet ich deshalb, weil Oma nicht wusste, dass ich einen Vampir liebte - niemand wusste davon -, wie also sollte ich den Umstand erklären, dass die leuchtenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut in tausend Regenbogenscherben zersplitterten, als wäre er ein Kristall oder ein Diamant? Oma, vielleicht ist dir aufgefallen, dass mein Freund glitzert. Das ist bei ihm immer so in der Sonne. Mach dir deswegen keine Gedanke ... Was machte er hier bloß? Der einzige Grund dafür, dass er in Forks, der verregnetsten Stadt der Welt lebte, war der, dass er sich dort im Freien aufhalten konnte, ohne das Geheimnis seiner Familie preiszugeben. Doch jetzt war er hier und kam anmutig auf mich zugeschlendert - mit diesem wunderschönen Lächeln auf seinem Engelsgesicht -, so als wären wir allein.
In diesem Moment wäre ich sehr gern nicht die Einzige gewesen, bei der seine geheimnisvolle Gabe nicht wirkte, während ich normalerweise dankbar dafür war, dass er meine Gedanken nicht hören konnte, als würde ich sie laut aussprechen. Doch jetzt wäre es mir sehr lieb gewesen, wenn er die Warnung hören könnte, die ich ihm in Gedanken zuschrie. Ich schaute panisch zu Oma und sah, dass es zu spät war. Sie drehte sich gerade um und starrte mich an, und sie sah genauso erschrocken aus wie ich. Edward, der immer noch so schön lächelte, dass mir das Herz in der Brust zu zerspringen schien, legte mir den Arm um die Schultern und wandte sich zu meiner Großmutter. Ich wunderte mich darüber, wie Oma guckte. Sie sah gar nicht entsetzt aus, stattdessen schaute sie mich verlegen an, als ob sie darauf wartete, dass ich sie ausschimpfte. Und sie stand ganz merkwürdig da - sie hielt einen Arm gebeugt in die Luft. Als würde sie jemandem, den ich nicht sehen konnte, ihren Arm umlegen, jemand Unsichtbarem [...]
Erst jetzt, als ich das Gesamtbild erfasste, fiel mir der riesige Goldrahmen auf, der die Gestalt meiner Großmutter umgab. Immer noch verständnislos, hob ich die Hand, die nicht um Edwards Mitte lag, um Oma zu berühren. Sie ahmte die Bewegung exakt nach, wie ein Spiegelbild. Doch dort, wo unsere Finger sich hätten berühren müssen, war nur kaltes Glas [...]
Mit einem Mal wurde der Traum zu einem Albtraum. Das war nicht meine Oma. Das war ich. Ich im Spiegel. Ich - uralt, welk und faltig. Edward stand neben mir, er hatte kein Spiegelbild, war quälend schön und für immer siebzehn. Er drückte seine eiskalten, perfekten Lippen an meine runzlige Wange. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, flüsterte er.
vdippel - 8. Apr, 07:16